Münchens 8000er (Reportage)
Von: Lukas von Stein
Marc Bernreuther aus München hat in unter 17 Stunden die gesamte Höhe des Mount Everest erklommen. Ohne Sauerstoff und sogar ohne Schnee.
Als Marc Bernreuther um zehn vor sechs sein Lastenrad packt, ist es noch dunkel. Musikbox, Proviant, Klamotten – er hat alles nötige dabei. Nun ja, fast alles. Eine wichtige Sache fehlt, wie sich später zeigen wird. Dann geht es los. Nicht in die Berge, sondern nach Pullach, südlich von München. Dort wartet die Isartreppe: 194 in die Jahre gekommene Stufen, die steil zu einem Wasserturm hinaufführen. 32 % Steigung. Perfekt für ein Everesting. Dabei geht es darum, die knapp 8849 Höhenmeter des Mount Everest in einer einzigen sportlichen Aktivität zu absolvieren. Wer im fünften Stock eines Hauses ohne Aufzug wohnt, weiß, wie anstrengend Treppen sein können. Nur, die Isartreppe zieht sich über etwa elf Stockwerke. Und Marc will sie 268 mal ersteigen. Das sind dann 2948 Stockwerke. Spätestens da fragt man sich vielleicht: Ist das vernünftig?
Marc Bernreuther ist Triathlet, Unternehmer und Teilzeit-Abenteurer. „Ich suche immer wieder Grenzerfahrungen, weil man dabei wahnsinnig viel über sich selbst lernt.“ Klingt soweit vernünftig. Bis man sich wieder vor Augen hält, was der Mann vorhat. Dass Marc seinen Versuch an einer Treppe startet und nicht in den Bergen, hat pragmatische Gründe. Eine Treppe ist kontrollierbar. Witterung, Laub, Geröll all diese Faktoren sind hier weniger problematisch als in der freien Natur. Außerdem bietet der 180-Sekunden Zyklus in dem er auf- und absteigt, eine stete muskuläre Abwechslung. Um Punkt sieben beginnt Marc seinen Aufstieg. Fünf Grad, es liegt kein Schnee oder Eis, nur vorjähriges Laub auf den Stufen. Nach jeder Runde klickt Marc einen Zähler. Der 268. Klick scheint noch unendlich weit weg. Doch er ist gut gelaunt, rapt zu der Musik in seinen Kopfhörern, schneidet beim Gehen ein Instagram-Reel. Nach jedem Abstieg gönnt er sich eine Süßigkeit oder ein Schluck Wasser. Um sich selbst zu konditionieren, wie er sagt. „Funktioniert super, wie bei einem Hund.“
Es ist der 23. Februar. Während überall im Land die Wahllokale öffnen, ist Marc, selbst Briefwähler, gerade bei Runde 22. Gegen neun Uhr tauchen die ersten Besucher auf. Manche laufen ein paar Treppen mit. Viele unterschätzen, wie anstrengend es ist. Bis zur 50. Runde kommt Marc ohne große Probleme. Dann wird er ruhiger. Langsamer. Irgendetwas stimmt nicht. „Ich spüre die ersten Belastungserscheinungen, meine Achillessehne knirscht“, sagt er. Doch er macht weiter. Püntklich um 13 Uhr gibt es Mittagessen. Kartoffelpüree aus dem Thermobecher – natürlich im Gehen. Doch der Schmerz wird schlimmer. Immer öfter muss Marc pausieren und seine Sehnen massieren. „Das ist genau das, wovor ich Angst habe. Dass ich mir eine Verletzung hole, die mich in Zukunft beeinträchtigt.“, sagt Marc. Man merkt, dass es ihm zu Schaffen macht. „Ich will einfach nur durchziehen und mir keine Gedanken machen müssen.“ Seine Sorge: Die starke Belastung beim Abstieg erhöht die Grundspannung des Wadenmuskels. Der Muskel zieht stärker an der Achillessehne, die dadurch gereizt wird. Eine schleichende Entzündung. „Das einzige, was ich vergessen habe, ist Tape“, sagt Marc. Ein kleiner Fehler, der zum Verhängnis werden könnte. Marc meint Kinesiologie-Tape – ein Klebeband, das zur Stabilisierung und Muskelschonung eingesetzt wird. „Da muss ich dann auch so vernünftig sein und aufhören, wenn’s soweit ist“, sagt er mit düsterem Blick auf die kommenden Stunden.
Doch noch ist es nicht so weit. Im Gegenteil. Bald kommen immer mehr Unterstützer vorbei. Einer kündigt an, dass seine Freundin bald ein Tape vorbeibringt und bei Marc entsteht wieder etwas Hoffnung. Um kurz vor drei trifft das Tape tatsächlich ein. „Da habe ich zum ersten Mal das Gefühl gehabt, dass ich das wirklich schaffen kann“, wird Marc später über diesen Moment sagen. Die kommenden Stunden werden härter. Um 17:09 Uhr sind es noch 100 Runden. Marc, inzwischen sichtlich abgezehrt, setzt seinen Bucket Hat auf. „Für den Grind.“ Ein Symbol fürs Durchbeißen. Ein Symbol der Unvernunft. Während die Wahllokale wieder schließen, entwickelt sich am Fuß der Treppe eine kleine Party. Techno, Bier, Jubelrufe alle drei Minuten. Doch Marc trägt Kopfhörer. „Nichts hilft so sehr wie Musik, einfach weiterzumachen.“ Runde 200. Eine kurze Pause auf der untersten Stufe. Ein großer Schluck Cola, eine Ibuprofen. Dann geht es weiter.
Während der Rest Deutschlands sich zum Tatort aufs Sofa setzt, knackt Marc die 7000 Höhenmeter. Die Menge verzieht sich allmählich, zurück bleiben Glückwünsche und Bewunderung. Dann kommt der Regen. „Mitten im schwersten Teil wird es auch noch nass, war ja klar.“ sagt Marc halb resigniert, halb belustigt. Die letzten fünf Runden. 23:37 Uhr. 16 Stunden, 39 Minuten. Erschöpft sitzt Marc auf der untersten Stufe. Er hat seinen Everest erklommen. Auf die Frage, wie es ihm gehe, sagt er: „Ich bin noch da.“ Zwei Tage später ist er immer noch da. Mit Muskelkater und brennenden Sehnen – und dem ersten Platz im offiziellen Leaderboard: Schnellstes Treppen-Everesting jemals. Wenn das mal kein vernünftiges Ergebnis ist.